Originally Posted By: lemming
Zuerst dachte ich an Vogelnistplätze. Aber im Buch Kunst in Gemälden, Bildhauereyen, Gebäuden und Kupferstichen auf Seite 456 werden Figuren erwähnt, die auf den Kragsteinen stehen oder sitzen und "jeden Augenblick herunterzufallen schienen".
Nein, so tierfreundlich war man im Mittelalter nicht, dass man Vogelnistplätze errichtet hätte. Figuren auf Kragsteinen gab es jede Menge. Aber an der Innenseite der Bögen macht das wenig Sinn. Es gibt außerdem alte Darstellungen vom Papstpalast, auf denen keine Figuren zu sehen sind.


Hier kommt die Auflösung: wink

Die meiner Meinung nach richtigen Antworten kamen von Ventilator:
Originally Posted By: ventilator
die kragsteine haben bei der fertigen burg keine funktion mehr, aber wenn ich mir die bilder so anschaue, waren die steine sicher recht praktisch um das holzgerüst darauf abzustellen, das für die errichtung der steinbögen benötigt wurde.

und von Superku:
Originally Posted By: Superku
Ich denke, diese Kragsteine waren dazu da, eine Art Holz-Schablone aufsetzen zu können, mit Hilfe welcher die Erbauer auf einfache Art und Weise Bögen um Bögen konstruieren konnten.

Erklärung:
Bei der Burg von Les-Baux hatte ich bei den Fenstern vier quadratische Öffnungen bemerkt, die durch kleine Steine verschlossen wurden (siehe unten Bild Nr. 1).
Also hatte ich überlegt, wozu diese Löcher gedient haben könnten. Als einzige sinnvolle Erklärung fiel mir ein, dass es eine Hilfe beim Bau des Fensters gewesen sein könnte. Also dass an dieser Stelle eine Holz-Schablone befestigt war, an der die Steine für den Bogen ausgerichtet wurden. Diese Schablone sollte auch die Bogenkonstruktion stützen, solange sie nicht vollständig fertiggestellt war und der Mörtel noch nicht trocken war.

Auf den Bildern Nr. 2 und 3 sieht man so eine Holzschablone (die Fotos sind von der Burgbaustelle in Guedelon, wo mit mittelalterlicher Technik eine Burg nachgebaut wird). Beim Bau eines Tores oder bei einem Fenster mit Rundbogen oder Spitzbogen kann man diese Holzschablone normalerweise von unten durch ein Holzgerüst stützen. In Les-Baux ist das Fenster jedoch an der Unterseite abgeschrägt (siehe Bild), sodass ein Stützgerüst schwierig anzubringen war. Deshalb musste man die Schablone oben mit Balken befestigen, die durch die Löcher geschoben wurden. Nach Fertigstellung wurden die Löcher dann verschlossen.

Ich vermute, dass die Fenster deshalb unten abgeschrägt waren, damit bei tiefstehender Sonne mehr Licht ins Innere der Burg fällt. Die Burg liegt ja sehr hoch oben auf einem Felsen, sodass die untergehende Sonne tiefer liegt als das Fenster. Das kann man auf diesen Fotos hier (Fotos) sehr gut sehen. Die unteren Fenster mussten sehr schmal sein, damit ein Angreifer, nicht durch sie hindurchklettern kann. Gleichzeitig waren sie aber wie ein "Trichter" gebaut, damit möglichst viel Licht durch das Fenster scheinen konnte. Die Fenster der darüberliegenden Etage waren dann schon größer und rechteckig (siehe Bilder).



Und in Avignon hatte man genau das gleiche Problem mit der unten abgeschrägten Fläche, auf der man kein stabiles Gerüst aufbauen konnte.
Wie man auf der nachfolgenden Zeichnung bei der Seitenansicht gut sehen kann, ist die Mauer an der Unterseite abgeschrägt. Das hatte zwei Gründe. Erstens war es dadurch für Rammböcke schwieriger, den unteren Teil der Mauer zu durchbrechen. Und zweitens wurden von oben herabgeworfene Steine durch die schräge Fläche in Richtung der Angreifer abgelenkt. Heutzutage kann man diese schrägen Flächen in Avignon nicht mehr sehen, da die untere Hälfte der Mauer jetzt unter der Erde liegt (früher gab es vor der Mauer einen Graben, der inzwischen zugeschüttet wurde). Die Mauer ist dadurch heute nur noch halb so hoch wie im Mittelalter.



Beim Papstpalast gibt es unten ebenfalls diese schrägen Flächen. Außerdem ist der Bogen in vielen Fällen einfach viel zu hoch oben, um ein Gerüst zum Abstützen der Schablone bauen zu können. Dass man in Avignon Kragsteine anstatt der Löcher zum Befestigen der Holzschablone verwendet hatte, liegt vermutlich an der Größe der Bögen. Bei einem kleinen Bogen, wie beim Fenster in Les-Baux, reicht ein relativ schmaler Balken aus, um das Gewicht der Schablone und der Steine tragen zu können. Diesen schmalen Balken konnte man in ein Loch in der Mauer stecken, das kleiner war als die Höhe eines Quadersteines. In Avignon musste die Konstruktion ein deutlich höheres Gewicht tragen können. Die Balken wären also vermutlich zu dick gewesen, um sie in Löcher in der Mauer stecken zu können.